Meer ohne Korallen
Nach einem neuen UN-Bericht werden noch in diesem Jahrhundert die
Korallenriffe an der Erderwärmung zugrunde gehen — unwiederbringlich.
Wir lesen so viel vom Artensterben und anderen Um-
weltproblemen. Warum sollten wir uns da gerade über
die „primitivsten“ Tiere Gedanken machen, die am
Meeresboden festgewachsenen Korallen? Korallenriffe
bilden die Grundlage für Biotope von außergewöhnli-
chem ökologischem Wert, die bisher einer Vielfalt von
Lebensformen eine Heimat boten. Ursache der vorher-
sehbaren Katastrophe ist vor allem die fortschreitende
Erderwärmung. Der Vorwurf, „der Mensch“ sei schuld,
stellt dennoch eine starke Verkürzung des Sachverhalts
dar. Den größten Anteil hatte die Macht großer Konzer-
ne und der US-Regierung, die alle möglicherweise wirk-
samen Schutzmaßnahmen vereitelten.
von Vijay Prashad
In einem im November 2020 erschienenen Bericht „Projektion zukünftiger
Bedingungen für die Korallenbleiche“ sagte Leticia Cavalho, Leiterin der „Ab-
teilung für Meer- und Süßwasser“ des United Nations Environment Program
(UNEP), die Korallenriffe seien der „Kanarienvogel im Bergwerk für die Klima-
auswirkungen auf die Ozeane“.
Das Bild des Kanarienvogels im Bergwerk (1) wird immer und immer wieder
bemüht, um viele Aspekte der Klimakrise zu illustrieren: Mit Bezug auf seine
Studien des Gletscherrückgangs in Grönland sagte der Glaziologe Ian Howat:
„Grönland wird der Kanarienvogel im Bergwerk sein“, während die australische
Evolutionsbiologin Dr. Janet Gardner sagte: „Vögel sind wirklich die Kanarien-
vögel im Bergwerk des Klimawandels“, weil die Schwankungen ihres Körper-
gewichts empfindliche Indikatoren für wechselnde langfristige Wettermuster
sind.
Jeder dieser Wissenschaftler — mit ihren Studienobjekten Gletscher, Gewicht
von Vögeln, Korallenriffe — liegt mit seiner speziellen Einsicht ebenso richtig
wie mit dem Urteil, dass das, was sie sehen, zutiefst beunruhigend ist.
Das Beunruhigende ist der Konsens zwischen diesen Wissenschaftlern, dass
steigende Temperaturen die Ökosysteme schnell und negativ verändern. Das
Beweismaterial in dem Bericht über die Korallenriffe ist schockierend. „Die
Korallenriffe werden bald verschwinden“, sagte Carvalho, wenn die momen-
tane Tatenlosigkeit fortgesetzt wird. Der Bericht der UNEP stammt von hoch
qualifizierten Wissenschaftlern, die ihre Behauptungen präzise begründen und
keine wilden Gerüchte in die Welt setzen. Angesichts dessen ist es ziemlich
ernüchternd, vorn im Bericht zu lesen, dass die Korallen in den 2040-er Jahren
verschwinden werden.
Der Bericht stellt fest, dass es eine Periode der Korallenbleiche gab, die 2014
begann und 2017 endete; damit war sie die bisher längste Periode seit Beginn
der Aufzeichnungen und „erstreckte sich durch den Pazifik, den Atlantik und
den Indischen Ozean“. Mit einfachen Worten: Zur Korallenbleiche kommt es,
wenn steigende Meerestemperaturen zur Überhitzung der Riffe führen, wo-
raufhin die Korallen ihre sogenannten Zooxanthellen (symbiontische Algen)
ausstoßen und dadurch ihre Farbe verlieren.
Die Bleiche kann sich wieder zurückbilden, wenn die Wassertemperatur ab-
nimmt. Aber am Ende des Sommers 2014 und in den folgenden Jahren bis 2017
reichte die Abkühlung nicht für die Erholung der Korallen aus.
Die Durchschnittstemperatur in den Ozeanen hat sich seit dem letzten Jahr-
hundert um 0,1° Celsius (0,18° Fahrenheit) erhöht (2), als Resultat von — unter
anderem — der verstärkten Nutzung fossiler Brennstoffe.
Die Zunahme der Atmosphärentemperatur hat auch schon in Zusammenspiel
mit dem Phänomen El Niño (1997/98 und 2010) zu katastrophalem Schwund bei
den Korallenriffen geführt. Aber das hält keinen Vergleichmit der Periode 2014
bis 2017 aus. Bei dem Ereignis 1997/98 kam es zum Absterben von 16 Prozent
aller Riffe, während die Erwärmung zwischen 2014 und 2017 bei 80 Prozent des
großen Barriereriffs vor Australien schwere Bleiche verursachte.
Vor einer Dekade schrieb der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore das Vorwort
zu einem Bericht mit dem Titel „Reefs at Risk Revisited“ (deutsch: Bedrohte
Riffe wiederbesucht). Dabei kam er zu dem Ergebnis, die Riffe seien „der Kana-
rienvogel im Bergwerk“, deren langsame Zerstörung darauf hinweise, dass
„unsere gefährliche Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen das Klima der Erde
bereits verändert“ (3). Wir werden gleich auf Gores Verwendung des Wortes
„unsere“ zurückkommen.
Wichtig ist auch, darauf hinzuweisen, dass nicht nur das Verbrennen fossiler
Kraftstoffe die Riffe bedroht, sondern auch andere Aspekte des Kapitalismus
wie die Plastikvermüllung der Ozeane.
Zwei Szenarien, beide bedrohlich
Die Korallenriffe werden von Wissenschaftlern oft „Regenwälder des Meeres“
genannt, weil sie wie diese hochdiverse Ökosysteme darstellen, deren Zerstö-
rung eine Vielzahl von Arten auslöschen würde. Dies wurde schon 2019 doku-
mentiert, in einem Bericht der „Intergovernmental Science-Policy Platform on
Biodiversity and Ecosystem Services“.
Der aktuelle UNEP-Bericht lässt für den Planeten noch zwei mögliche Szenarien
zu: Ein „worst case“ und ein „middle-of-the-road“ Szenario. Ein gutes Szenario
ist nicht dabei.
Die Riffe sind schon geschädigt, und die Wahrschein-
lichkeit, dass das Meerwasser abkühlt, ist so klein, dass
wir jeden Grund zu der Befürchtung haben, dass schwere
Bleichen bis 2045 zum Verschwinden der Riffe führen
werden.
Wenn der Verbrauch fossiler Brennstoffe nicht abnimmt und die Erderwärmung
weiter steigt, wird „jedes einzelne Riff der Erde bis zum Ende des Jahrhunderts
ausbleichen, wobei schwere [reversible] Bleichen im Jahresrhythmus (Annual
Severe Bleaching, ASB) im Durchschnitt ab 2034 zu erwarten sind“. Und damit
9 Jahre früher als in der letzten UNEP-Prognose von 2017, was zum Teil an ver-
besserten Messergebnissen liegt.
Wenn die Länder ihre gegenwärtigen Zusicherungen, die Kohlenstoffemissio-
nen um 50 Prozent zu senken, übertreffen (4) — dann kommt es erst 2045,
also ganze elf Jahre später, zu ASB.
Ist die Menschheit schuld?
Bei der Erklärung des Klimawandels wird häufig von „menschlicher Aktivität“
oder „der Menschheit“ gesprochen. Es wurde sogar ein Name für die ganze
historische Epoche geschaffen: Das Wort „Anthropozän“ soll dies als geolo-
gische Epoche definieren.
Carvalho vom UNEP sagte kürzlich: „Die Menschheit muss mit der evidenz-
basierten Dringlichkeit, mit Ehrgeiz und Innovationskraft handeln, um die
Zukunft für dieses Ökosystem zu ändern.“ Nur „die Menschheit“ anzuklagen
ist viel zu vage. Dieser Finger zeigt nicht auf die wahre Ursache.
Erstens verdunkelt der Begriff „Anthropozän“ die Tatsache, dass es die massi-
ven Produktivkräfte des Kapitalismus waren, die die Kohlenstoffemissionen aus
fossilen Kraftstoffen generiert haben. Ein vager Begriff wie „Anthropozän“ er-
klärt nicht deren explosives Wachstum, sondern man muss schon vom Kapita-
lismus sprechen, um die Erderwärmung zu verstehen.
Zweitens, da der Kapitalismus sich unterschiedlich entwickelt hat, wobei der
globale Norden, im Zuge des Imperialismus, durch Gewaltanwendung Vorteile
einheimste, haben diese Länder überproportional von den kapitalistischen
Produktivkräften profitiert. Sie haben historisch den meisten Kohlenstoff in
die Atmosphäre geblasen und tun es immer noch, wenn man pro Kopf rechnet.
Jedes Programm, das nicht den 1992 in Rio aufgestellten Grundsatz der „com-
mon but differentiated responsibilities“ (deutsch: gemeinsamen aber differen-
ziert anzuwendenden Verantwortung“) beachtet, wird auch nicht erkennen,
dass Europa und Nordamerika heute wie in der Vergangenheit am meisten von
den fossilen Energieträgern profitierten, im Gegensatz zu anderen Ländern,
doch jene sind es, denen die Erderwärmung höchstwahrscheinlich am meisten
schadet.
Drittens, das größte Hindernis für einen Wechsel war
nicht die „Menschheit“, sondern die Macht der Konzer-
ne und die US-Regierung, die nicht nur das Pariser Ab-
kommen von 2015 verwässert haben, sondern dann auch
noch jede eigene Verbindlichkeit für die lauwarmen
Übereinkünfte aufkündigten.
Es ist bezeichnend, dass Länder wie Jamaica und die Mongolei ihre offiziellen
UN-Klimaziele, wie es das Pariser Abkommen fordert, für 2020 aktualisiert haben
— obwohl diese Länder nur einen kleinen Bruchteil der globalen Emissionen
produzieren. Die Finanzmittel, mit denen die armen Länder für ihren Beitrag
unterstützt werden sollten, sind praktisch versiegt, während ihre externen
Schulden stark gewachsen sind. Hier zeigt sich auf Seiten der „Internationalen
Gemeinschaft“ ein Fehlen an grundlegender Ernsthaftigkeit.
Die Riffe werden sterben — das scheint sicher. Der UNEP-Bericht, auch das
scheint sicher, wird nicht zirkulieren. Ruanda und die Marshallinseln werden
ihre Aktualisierungen schicken — das ist schon geschehen. In der Zwischenzeit
sitzen die USA nebst Verbündeten am Spielfeldrand und bauen das Fracking
aus, mit der Einstellung: Wen juckt‘s?
Vijay Prashad ist ein indischer Historiker, Verleger und Journalist. Er ist der lei-
tende Herausgeber von LeftWord Books und Leiter von Tricontinental: Institute
for Social Research. Er hat mehr als zwanzig Bücher verfasst.
Redaktionelle Anmerkung: Der Artikel wurde produziert von Globetrotter und
erschien zuerst unter dem Titel „You don’t want to imagine an ocean without
coral reefs, but you might have to“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-
Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektorat-
team lektoriert.
Weiße Koralle am Strand der Redang Insel, Terengganu, Malaysia. Foto: Unsplash.com
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Anmerkungen des Übersetzers:
(1) Bergleute pflegten einen Käfig mit Kanarienvogel
mitzuführen, dessen Verstummen oder Tod sie vor
gefährlichen Gasen warnen sollte.
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mine', Phys.org
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2012 State of the Climate: Sea Surface
Temperature, Climate.gov
Anmerkungen des Übersetzers:
(2) Der hier angegebene Wert von 0,1° Celsius
erscheint nicht sehr bedrohlich, und ist wohl ein
Übertragungsfehler. Man muss nur die verlinkte
Quelle öffnen, um dort ein Diagramm zu finden, das
zeigt, dass der Anstieg der Ozeantemperaturen
zwischen 1910 und 2010 deutlich über 1,5° Celsius liegt.
Verwandter Beitrag:
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Reefs at Risk Revisited, World Resources Institute
Anmerkungen des Übersetzers:
(3) Hier wird das Korallensterben noch als Beweis für
die Erderwärmung angeführt, die damals noch
kontrovers war, aber heute als gesichert gilt.
Anmerkungen des Übersetzers:
(4) „erreichen“ wäre in diesem Zusammenhang
logischer, aber „übertreffen“ steht in der Vorlage.
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